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perspektive heft nummer 80 + 81 ist im dezember 2014 erschienen.

kolumnen

  • d. holland-moritz – beat box
    An der Legende der Westberliner 80-Jahre-Szenebar Risiko wird ja schon seit längerem gestrickt – es war der Journalist Cord  Riechelmann, der in seinem lobenswert differenzierten Report Die Frontstadt in monopol Nr. 5, Dez./Jan. 2005, die Masche von den >Genialen Dill(!)etanten< noch einmal aufnahm und die Bedeutung der Bar für die Avantgardekultur der Stadt herausstrich – ein Beitrag, den ich gern in die von Gabriela Wachter und mir leider antizyklisch=zwischen den retrospektiven Peaks herausgegebene Anthologie war jewesen – West-Berlin 1961-1989 aufgenommen hätte.
  • verena mermer – may day
    wo sich fuchs und hase gute nacht sagen und cctvs überall sind: platz für die größte goldmine europas? 1600 tonnen gold, 300 tonnen silber, 215 mio. m³ kontaminiertes wasser / 900 wohnsitze: fast alle geräumt / umhergeistern zwischen leer stehenden häusern und
    trotzenden schildern:„dieses eigentum ist nicht zu verkaufen“
  • sylvia egger – axit – die betriebskantine
    gogols baschmatschkin. der ein besonderes verhältnis zu mobbing und papier hatte. und insbesondere als kopist zu seinen arbeitskollegen. bevorzugte unter all dem lebendigen die prächtige welt der buchstaben. beim anfertigen von abschriften machte er sich den einen oder anderen buchstaben zum freund. man konnte beim abschreiben in seinem gesicht lesen. welchem buchstaben gerade seine aufmerksamkeit galt. dabei ließ sich dann auch leicht vergessen. dass eben das papier auf seinem kopf. das kollegen dort platzierten. für schnee in den augen dieser kollegen herhalten musste. büro-archiv. schock & mobbing liegen eben ganz nah beieinander. (you ain‘t nothin‘ but a hound dog. you ain‘t no friend of mine)
  • evelyn schalk – nach.schicht
    die anpassungswut erreicht immer allumfassendere ausmaße. das ist als solche längst keine neue erkenntnis mehr, verweist aber auf einen der vielen gründe – jenes kaleidoskop an möglichkeiten, bezügen und betrachtungssplitter, begegnungen und benennungen, aktualitäten und reflexionen – für die betitelung dieser seriensplitter, fragmentreihen, textverblitzungen.
  • nikki draeger – odradeks klassenstandpunkt
    Quartale zuvor wurde im deutschen Feuilleton über den Zweck der Literatur debattiert und darüber, ob sie gegenwärtig ihn auch erfülle. Seinen Ausgang nahm dies in einer Zeitung für Lehrersöhne und Arzttöchter. Dort ließ sich ein Arztsohn über Arztsöhne und auch ein paar Arzttöchter aus. Der Arztsohn war der Ansicht, die deutsche
    Gegenwartsliteratur sei konformistisch und schlecht (ob das stimmt?), weil sie vornehmlich von Arztsöhnen geschrieben werde. Gleichzeitig werde der Konformismus verwaltet durch die Staatsapparate.

texte

  • nikki draeger – wo ist die rechte zeit
    an anderer stellelimonade prickelt
    es wird gearbeitet
    es prickelt wo gearbeitet wird fuer limonade (an anderer stelle)
    der zug wird nicht rechtzeitig sein
    dort steht: nichts ist umsonst
  • max pfeiffer – jahresvertrag
    schallend im rauch
    “and make it fucked up”
    am rot verbrannt
    “Rückkehr zu Sisyphos”
    am leben nagt der leberzahn
    dilatorisch & fakultativ
    unter aufgereckten kiefern
    brenzlig vergokelndes abendrot
    Wir sind die… Aye Aye Cäpt‘N ! You Are the Champion!
  • su tiqqun – individuell
    Als solches bin ich das was ich nie sein wollte | andauernd erscheine ich | wo ich nicht bin |ich bin am Ziel und schon wieder weg | ich bin hier im dort | obwohl dort nur ein interface ist | | ich werde immerzu das | was ich soll | ich bin das branding meiner nichtung | ich bin ein anderer & immerzu dort | wo mich die abwesenheit küßt | die ausrottung liebkost
    | magnetstrahlung durchdringt || ich bin binär geworden || alles was an mir dran ist | wird rapide gefibert | mit glasfasern | die mich ersetzen | beschleunigen | umherschiessen || ich bewege mich durch fibras opticas | die rapide kontaminierung meines körpers löst mich auf
  • helmut schranz – spendenhosen
    Die Wand ist still. In den Mauern ist es sehr leise. Die Decke ruht auf. Nichts verschwindet. Es rieselt nicht und die Flocken. Am Boden ist es ruhig aus Holz. Die Möbel zerfallen in die Einrichtung. Die Gegenstände sind zusammengesetzt. Die Türen und Fenster sind ausgelassen geräuscharm. In den Leitungen gibt es nichts zu sehen.
  • lilly jäckl – glitzer in der fresse
    Mehr denn je einsam oder zu zweit, einsam zu zweit oder in der Menge, oder wenn man zufällig berühmt oder beliebt geworden ist und sich wiederfindet im Unterwasserrauschen des Stimmengewirrs neben einsam aneinander gestoßenen Sektgläsern. Denk dir, dieselbe Einsamkeit verfolgt dich durch das gesamte Universum, denk dir. Trinkst. Denkst und trinkst, wirst angestoßen von jemand, der auch bloß seine Ruhe will.
    Bestellst dir noch eins, prostest deinen Leuten zu und nicht nur du sondern auch sie sind heute mehr denn je, denn es ist Samstag auf einer sommerlichen Straße der ersten Welt und die ganze Stadt ist heute mehr denn je und eins mit ihr und eins mit dir und scheints für ewig ganz vereint in Feierlaune.
  • arlette-louise ndakoze – W
    …wieder wogen wohl eben wachgeworden wiederbelebte weiße Flüsse, ungewohnt zähe Laken. Wie du beginnst sie zu bewohnen, wickeln sie sich um deine Finger, ziehen sie an, heben sie an, es nützt nichts, ihnen kannst du dich nicht entziehen. Er schimmert wieder durch, der Instinkt, der Ruf durch deine in Rot getränkten Lebenslinien, Knie angewinkelt, Schlüsselbeine angezogen, die Packung Moor vorhin, sie fiel von allein, kein Platz auf den zusammengefalteten Schulterblättern. Wähntest dich in Sicherheit, wehrtest dich gegen alle Gesetze der Schwerkraft, tust dich schwer, ihnen nachzugeben, kannst aber nichts tun, als zuzuschauen, wenn alles Seichte Weiche Leichte von deinen faltigen Schultern abfällt, das Schwere in die feiste Lücke spaziert.
  • d. holland-moritz – koutsounari camping
    Hotel Irini, Heraklion (Kreta): Wird uns die Bewegung an diesem 2. Juni 2014 noch einmal ins Geheimnis führen, in das Rätsel der südlichen, dieser glutäugig-dunklen oder krass ins Blonde gefärbten Nacht? Wie es unsere schlummernden psychotopographischen (Un-)Orientiertheiten und Sehnsuchtspläne immer nahelegen und die jedesmal angetickt werden, sobald wir uns auf der Außenmole Heraklions hinter dem illuminierten venetianischen Fort dem Flappen des Windes um die Ohren und der mit Lichtmützchen gesprenkelten Dünung ergeben.
  • clemens schittko – deutschland
    Deutschland, ich habe dir alles gegeben, und jetzt bin ich nichts.
    Deutschland, Hartz IV seit dem 01. Januar 2008.
    Ich begreife es einfach nicht.
    Deutschland, wann machen wir endlich dem Wirtschaftskrieg ein Ende?
    Fick dich doch selber mit deinen 20 Atombomben vom Typ B61.
    Lass mich in Ruhe, mir geht es nicht gut.
    Ich schreibe meine Gedichte erst, wenn ich betrunken bin.
    Deutschland, wann wirst du Gott sein?
    Wann ziehst du dich nackt aus?
    Wann begreifst du, dass du sterblich bist?
  • rené hamann – winter
    Ich fuhr mit Doreen an den See. Oder soll ich sagen, Doreen fuhr mit mir? Sie hatte einen Wagen, einen roten Audi mit ausklappbarem Verdeck und bayerischem Kennzeichen; ein Firmenfahrzeug, freundliche Leihgabe fürs Wochenende vom Chef, einem alternden Verleger, von dem sie Sonntagmorgens auch gern einmal aus dem Bett und vor seinen Küchentisch bestellt wurde, um dort ganz persönlich berufliche Aufträge entgegen zu nehmen. Aber es war Samstag, Doreen fuhr mit mir an den See, nach Buckow, zum Schermützelsee. Es war schon Nachmittag, als wir endlich los fuhren, ich hatte morgens in aller Eile noch einen Artikel schreiben müssen, während sie zu einem Frühstück eingeladen war.
  • d. holland-moritz – das delta 6
    Highway 1 war voll von ihnen:
    bunten Stickereien auf Westen aus Schafspelz, Batikblusen mit Puffärmeln, breiten silberbeschlagenen Gürteln unter indischen Hemden, Jesushemden, farbenfrohen, unten weit ausgestellten, oben engen Hosen, die das Tragen von Kaninchenpfoten in ihnen unentbehrlich machte.
    Muschelketten? Selbstverständlich auch Muschelketten.
  • verna peric – play it again, cage
    Es ist November und in Moskau ist es sicher eisig kalt. Während die Polizisten ihn abführen (Wie haben sie ihn losgekriegt? Hinterließ sein Blut eine rote Spur? Gab es überhaupt Blut?) und daraufhin ins Krankenhaus bringen, wo sie ihn aber freilassen, als sie feststellen, dass er (mental) völlig gesund ist, spricht Pawlenski kein Wort. Sei es, weil ihm der Hodensack gar nicht wehtut, sei es, weil er denkt, dass durch seine Performance „Fixation“ schon alles gesagt sei, jedenfalls scheint Pjotr mit seinem Schweigen vor all jenen Kreaturen zu triumphieren, die keine Eier in der Hose haben und die sein verpixeltes Geschlechtsteil auf den Fotografien und auf Youtube betrachten. Daran war nichts Sexuelles, nichts Körperliches.
  • kai pohl – anne will es …
    WHO IS WHO heißt jetzt OHM SI OHM,
    nicht zu verwechseln mit Home Sweet Home.
    Mall heißt jetzt Mall oder Malle,
    nicht zu verwechseln mit Mole und Molle.
    Volllallen heißt jetzt zuspammen,
    und Spam heißt nicht mehr Dosenfleisch, sondern
    die schlimmsten Lügen der Haarausfallindustrie.
  • arlette-louise ndakoze | ralf b. korte
    Dieses verdammte Lied. Was treibt einen, immer und immer und immer, und immer wieder dieses Lied aufzulegen, es sich an die Ohren zu legen? Was ist das, dass mansich in eine Hypnose begibt mit diesem Lied? Hypnose gern, mit einem Lied noch gerner, aber mit diesem Lied? Verdammt noch mal. Und mich da auch noch mit reinzuziehen. Macht nichts. Was rege ich mich auch über Lieder anderer Leute, Hypnosen irgendwelcher Gestalt auf. Jeder sein eigener Trip, sein eigenes Lied, sein Eigenes.
  • max höfler – grossartige automation
    Stimmt da rüstiger Pensionist betritt die Bühne:
    Also wenn also jemand anders verstorben ist wenn die Krankheit schon soweit fortgeschritten ist das sie es erledigen das sie nicht zu uns kommen können zu uns zuzüglich Outdoor! Nicht möglich wie viele Totgesagte werden betreut. Schmerzen Vergnügen. Grundsätzlich
    gibt es für viele zu Schnelligkeit Probleme beim Selbstkompetenz nicht auf Kosten sterbende Menschen zu gehen.
  • clemens schittko – stammtisch korrekturen / herzklopfen
    das ist nicht Homer Simpsons, das ist der Dichter Homer
    das ist nicht Wilhelm Busch, das ist Hiernonymus Bosch
    das sind sowohl Francisco de Goya als auch Federico García Lorca
    das ist nicht Walter Höllerer, das ist Friedrich Hölderlindas ist nicht Dirk Nowitzki, das ist Novalis
    das ist nicht Claus Kleber, das ist Heinrich von Kleist
    das ist nicht Adolf Eichmann, das ist Joseph von Eichendorff
    das ist nicht Michael Schumacher, das ist Robert Schumann

TextTotal

  • ralf b. korte – rubrik das gedicht / judith zander
    rechtzeitig zur fussballweltmeisterschaft hatte die Zeit ein wenig am layout gebastelt. fanden wir Das Gedicht bislang rechtsaussen auf der letzten seite der Literatur, wechselte es nun nach linksaussen und wanderte dabei in einen kasten, der links oben nicht ganz geschlossen ist: linear und schmal geht es linksseitig runter dann rüber dann rauf, bildet so gegen die schreibrichtung einen behälter der sich auf der rubrik-deckelnden geraden dann allerdings nicht richtig schliesst, stattdessen aus der waagerechten bricht:
  • d. holland-moritz – maja haderlap
    Ich bin ja schon oft gefragt worden, auf welche Weise wir denn die Auswahl für unsere Bearbeitungen träfen, wenn uns mal wieder so ein Jahrgang von Gedichten aus Die Zeit vorliegt. Ich will nicht verhehlen, daß es von nicht unbeträchtlichem Aufwand ist und einiger geistiger Akrobatik bedarf, was die EMPATHISCHE DISPOSITION bzw. den MENTALEN VEKTOR anbelangt, der meinen poetischen Restlichtverstärker steuert und die Suche nach dem einen, vielleicht LEUCHTENDEN JUWEL befeuert – nun, es sei vorweggenommen: Ich hab‘ den Klunker auch dies Jahr nicht gefunden.
  • uwe warnke – jürgen becker
    Wir kennen ja alle diese Küchenlyrik. Mit viel Mühe und Liebe Hingeschriebenes, ich würde mal sagen Endgereimtes zumal, übervoll mit Bildern der Verklärung und des sogenannten Schönen. Viel Moralisches, und das Bedauern über die vermeintlich Besseres bereithaltende Welt: „Wenn Die Blümlein Draußen Zittern“, „Wo‘s Dörflein Traut Zu Ende Geht“, doch Vorsicht, ü?berall lauern Gefahren, die als Folie des Fehlverhaltens den Zuhörern vorgehalten werden: „Lieschen Ging Im Wald Spazieren“, „In Des Gartens Dunkler Laube“, „Die Verlorene Tochter“, „Sie War Ein Mädchen Voller Güte“;
  • d. holland-moritz – karin kiwus
    Tjaah, Falltüren von KARIN KIWUS ist… kein schäbiger Mittelklassewagen, kein Sack mit angegammelten Kleidungsstücken und keine verpißte Matratze … nein, nein, nein, auch ein Hundehäufchen ist es nicht – es ist …ein Prosasatz, der topisch wohl eher der natürlichen Umgebung einer 1942 geborenen ehemaligen Leiterin Literatur an der Akademie der Künste Berlin und einer Bundesverdienstkreuzträgerin entspricht und den man auch so lesen kann:
  • ralf b. korte – ann cotten
    dein nachts um halb eins ist längst früher nachmittag, dein kühler bach ist der rauschende berufspendlerverkehr vor dem hochparterrefenster und von kühler naßblume keine spur. baustellengeräusche, liegst nassgeschwitzt und leergeträumt auf dem verbrauchten laken aber halt, nasse blume? was soll nassblume sein, wet flower gott verdammte lilien vielleicht, bescheuerte lilium longiflorium ausm osten die vor neunzehn vierzig so beliebt gewesen sind in new york city dass sie nach pearl harbour dann ziemlich fehlten beziehungsweise rekultiviert werden mussten, damit ostern immer schön was weisses sich stülpte über die gärten gethsemane daheim?
  • uwe warnke – ann cotton
    „Nachdenklich vor Liebe“: das musst du erstmal hinkriegen. Und auch noch um „halb eins“. Wenn ich mich recht erinnere, machte ich, in ähnlichen Situationen und Gefühlslagen, dumme Versprechen, das Blaue vom Himmel – ohne zu lügen, glaube ich. Zum Nachdenken kam ich nicht – „was soll an weichen Knien gesund sein“, würde später ein alter Freund zu mir sagen – und warf gelegentlich mein Leben über den Haufen. Das verging, gewiss, aber es passierte in größeren Abständen wieder. Da capo al fine. So jedenfalls bei mir. Von den Gedichten, die dazu entstanden, ganz zu schweigen.
  • d. holland-moritz – wallace stevens
    Schon mal gesehen, wie schnell so eine Spinne sein kann, wenn sie nicht gerade wie ein fetter Brocken im Zentrum ihres Netzes sitzt und auf Beute wartet? Da ist von schleichen keine Rede. In der Sahara gibt es sogar eine, die rollt in atemberaubendem Tempo die Dünen hinab – man weiß noch nicht genau, ob man sie nach ihrem Entdecker, einem Bioniker an der TU Berlin, Cebrennus rechenbergiinennen soll, aber wenn sie es eilig hat, schlägt sie Purzelbäume oder gar Flicflacs im Wüstensand und ist mindestens doppelt so schnell wie zu Fuß.
  • uwe warnke – jan wagner
    Auf der Frankfurter Buchmesse 2014 entdeckte ich bei einem großen Kalenderverlag, einer von denen, die das Prinzip des Gelddruckensals einzigen Antrieb ihrer Produktion gelten lassen dürften, mehrere sogenannte Literaturkalender. Nein, es war nicht Arche und nicht der Aufbau-Verlag. Daher auch meine Verwunderung. Das sah ich mirnäher an und entdeckte einen sogenannten Literaturkalender Hunde, Literaturkalender Katzen, Literaturkalender Eulen und natürlich den Literaturkalender Pferde.
  • ralf b. korte – jan wagner / joseph von eichendorff
    das hier ist von lea beiermann die es in die Frankfurter Allgemeine Zeitung geschrieben hat zum ende der buchmesse dort, soll wohl wie jede werbung welchen helfen aus falschen abstraktionen zu kommen und ihnen konkrete hoffnung machen. das prinzip hoffnung hier besteht für die fachidioten der next generation aus dicht besetzten stuhlreihen und mehr einnahmen plus jubel der den durchschnittsapplaus eines gelangweilt wohlwollenden publikums übertrifft. ich kenne diesen teil der bewegung nicht, kannte vielleicht andere die es beim teilen von irgendwas eher mit holger meins gehalten haben, entweder du bist ein teil des problems oder du bist ein teil der lösung.