open call für perspektive 112|113 , „golden:spike“ (winter 2022/23)

„Am 35. Internationalen Geologischen Kongress in Kapstadt sprach sich 2016 die Arbeitsgruppe zum Anthropozän dafür aus, einen „Golden Spike“(…) festzulegen, eine charakteristische Veränderung in den Sedimenten an einem bestimmten Ort: Er wird in der Mitte des 20.Jahrhunderts vermutet, dem Zeitpunkt, seit dem der Einfluss der Menschen auf die Erde exponentiell wächst und sehr langlebige Spuren hinterlässt.“

Wikipedia

„hölderlin does not fall into the trapdoor of hegel’s ‚aufhebung‘ (sublation). he doesnot buy idealism’s faith in the historical realization of ‚geist‘ (spirit). his ground forunderstanding reality is not ‚geschichte‘ (history) but ‚begeisterung‘ (inspiration).hölderlin intuits that the intimate texture of being is breathing: poetical rhythm.“

franco berardi, breathing. chaos and poetry. semiotexte 2018

Es gibt in den letzten zehn-fünfzehn Jahren einige hervorragende Beispiele von Lyrik, die sich dem Produktivmachen diverser Anthropozändiskurse aus dem akademischen Milieu verdankt. | freilich sitzen wir mit ‚lyrik‘ vermutlich fehlübersetzungen auf die aus poetry poesie extrahieren, damits spätromantisch wesentlich scheint. | Der Begriffsimport aus der Geologie wirkt, wenn wir ihn ernst nehmen, auf Zeit- und Selbstwahrnehmung – der Blick auf die geologische Schicht, welche die Spuren der Spezies Mensch trägt, legt auch den Blick aufs eigene Selbst als Kohlenstoffhäufchen unter Kohlenstoffhäufchen nahe; Sprechen unter dem Gesichtspunkt nicht bloß des indiviuellen Verlöschens, sondern des Verlöschens der Spezies; Schaudern. Dem korreliert auch ein Verschub in der Selbstwahrnehmung der Sprecher*innen als soziale, als politische Wesen. | wenn wir aufhören zu behaupten, selbst lösung zu sein, oder mittel zu lösungen anbieten zu können; wenn wir beginnen festzuhalten, dass wir das problem sind das nicht wir lösen werden. | Sprechen wir von unserer Lösung? Von unserer Auflösung? Von unserer Auflösung her? Sprechen von dem, was uns löst? Oder sprechen von dem her, was uns löst?

wenn wir so tun wie uns lösen zu wollen, trotz der tatsache dass wir nicht von uns selbst lösbare problemstellungen bleiben, sind wir in dem was anthropozän & schreiben zu sein vermeint. ein schreiben ausser uns durch uns, ein atmen scheinbarer sprachlosigkeiten des und der anderen, die von unseren selbstentwürfen allenfalls be- und verwertet sind, damit wir uns weiter schreiben können. die frage wäre jedoch: tun wir nun so, als wären wir mittel zu höherem zweck wie, rettung jeglicher daseinsformen auf dem planeten von dem wir kaum weggekommen sind, kaum wegkommen werden, auch wenn paar billionäre auf der umlaufbahn surfen? | So radikal das Programm zu sein scheint, und so groß, worauf die einzelnen Texte verweisen können, so wenig scheint die Sprache, die es hervorbringt, zur genauen Beschreibung und Kritik von einzelnen, bestimmten Phänomenen in der Zwischenwelt der Menschen tauglich: Wird just durch die Öffnung der Sprache für die subalternen[Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? (1988)] Erdbewohner*innen unmöglich gemacht, irgendeinen dieser Bewohner*innen noch irgendwie anders denn als subaltern zu denken? Dann hätte jenes neu-entgrenzte Subjekt des Lebens auf der Erdkruste als subaltern zu gelten zwar bloß noch im Verhältnis zur erwähnten Umlaufbahn, aber das unausweichlich? Und es wäre nicht und nicht in Blicke zu bekommen, was dort herumfliegt?

der reigen langer erzählung patriarchaler konstellationen ist am ende – aber ist anthropozäntext sich reflektiert gebender neuer männer[et al.] u deshalb näher am weiter–trotz–dem–ende–der–geschichte? als thema taugt anthropozän nun schon länger – | ganz praktisch, das heißt: im universitären und/oder redaktionellen Arbeitenmüssen, beim Vorweisenmüssen von Referenztexten, von Gegenwartsbezug, Bezug auf außerakademisch Wirkliches | – um den leerlauf sonstiger themenstellungen nachzujustieren. obs eine der grade inflationären zeitenwenden repräsentiert, oder nur einen trick, ebendiese noch einmal zu umgehen, steht für uns irgendwie infrage. | Die Erkenntnis, von der auszugehen ist, wäre einfach: dass wir, weil Anthro-, nunmal ans entsprechende -Zän gebunden sind. Und wäre eben nicht: „Hurrah, wir können Selbstüberwindung qua Mimesis an Quallen, Steine, Schmetterlinge.“ Das eigene Ende erkennen, und im eigenen Untergang schreiben, der alles uns Umgebende weitgehend mitreissen wird, ist etwas anderes, als so zu tun, als gäbe es noch die Chance, sich als Stein über Wasser zu halten. In diesem Sinn:

Liebe Autor*innen!

Manche von euch zählen ja grade zu den Verfasser*innen jener oben genannten „hervorragende[n] Beispiele von Lyrik (…), die sich dem Produktivmachen dieser diversen Anthropozändiskurse aus dem akademischen Milieu verdankt“. Helft uns also, mit der oben ausgebreiteten Spannung umzugehen! Schickt literarische, theoretische oder sonstige Texte zum Thema! Sagt uns ggf., wie wir falsch (oder: warum wir richtig) liegen! Zeigt uns Schauplätze „anthropozäner“ Kunst, die wir nicht bedacht haben! Schärft, schärft den Dissens!

(Wie stets sind uns darüber hinaus auch „freie“ Einsendungen, ohne Bezug zum im Call gestellten Thema, hochwillkommen!)

EINSENDUNGEN …

… bitte bis 01. 10. 2022, nur per mail, an office@perspektive.at